Das neue marienverehrende und christliche Fátima

José Barreto

Fátima befindet sich im Umbruch und passt sich neuen Zeiten an. Als Ort der Buße für die Sünden der Welt und der Betonung der erlösenden Rolle des Leidens ist das Heiligtum nun nicht mehr schwer zugänglich und unzulänglich ausgerüstet für die Aufnahme von Unmengen von Gläubigen. In ihrer bequemen und farbenfrohen Kleidung wirken die heutigen Pilger ebenfalls anders als die ärmlich gekleideten Dorfleute auf den alten Fotos, die stundenlang Kälte, Regen und Hitze mit der gleichen Ausdauer und Resignation aushielten wie die täglichen Leiden des Lebens. Die aktuellen Bilder von Pilgergruppen, die sich mit Tennisschuhen, sportlicher Kleidung sowie einer Flasche Wasser in der Hand ausgerüstet auf dem Weg nach Fátima befinden, erinnern eher an einen Marathon des Glaubens. Am Ende der Wallfahrt erwartet sie bereits ein Dach über den Kopf und die Hoffnung auf einen Sitzplatz im Innern der Dreifaltigkeitskirche. Die Beziehung von Fátima zur Buße ist im Begriff sich zu ändern. Das Leiden gehört eher der Vergangenheit an.

Auch Fátimas aktuelle sakrale Kunst widerspiegelt gleichfalls eine Anpassung an die heutige Zeit. Die modernen und funktionellen Linien der neuen Kirche von Fátima, ihre eher zur Erde als zum Himmel ausgerichtete Architektur, die neue weiße Statue der Jungfrau Maria im Inneren, bei der einige Attribute ihres traditionellen Erscheinungsbildes entfallen sind sowie der Avantgardismus in Stahlform des Großen Kreuzes zeugen eindeutig von einer ästhetischen Neuerung des Heiligtums. Da der gesamte alte Teil der heiligen Stätte erhalten geblieben ist, entsteht ein allgemeiner Eindruck von Verschiedenartigkeit und Pluralität.

Fátima ist nicht nur dabei seine Physiognomie zu ändern, sondern wird sich auch in religiöser Hinsicht anpassen, auch wenn dies vielleicht weniger offensichtlich ist. Neue Interpretationen des „Geheimnisses“ von Fátima deuten möglicherweise auf andere als die traditionellen Horizonte, ohne dabei den apokalyptischen Charakter der Botschaft der Jungfrau Maria zu verlieren. Noch wird das spirituelle und geistige Universum Fátimas von den altherkömmlichen Vorstellungen der Sünde, der göttlichen Strafe, der Buße und Bekehrung bestimmt, die im Rahmen eines kosmischen Kampfes zwischen den guten und den verderblichen Kräften oberhalb oder jenseits der eigentlichen Menschheitsgeschichte zu verstehen sind. Das Hauptthema der Buße kann jedoch auch als „dramatischer Appell an die Freiheit des Menschen, sich selbst und somit den Verlauf der Geschichte zu ändern“ interpretiert werden (Kardinal Ratzinger, 2000). Die Botschaft Fátimas verspricht von daher, sich spirituell zu vervielfältigen und sich neuer Symbolik, neuen Teleologien und Weltanschauungen zu öffnen, von denen einige in einem Spannungs- bzw. Konfliktverhältnis zu den anderen stehen. Das einheitliche Bild eines traditionsbetonten, extremistischen und anti-ökumenischen Fátimas, geschichtlich durch eine anti-republikanische und – weltweit – anti-kommunistische Einstellung geprägt, befindet sich wahrscheinlich im Schwinden, ohne dass es durch ein anderes einheitliches Bild ersetzt werden soll. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil ist Fátima Thema und Schauplatz von Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Tendenzen gewesen, die zu einem gewissen Grad dem realen Pluralismus des Katholizismus in Portugal und weltweit entsprechen. Die extremistischen und anti-ökumenischen Katholiken wollten Fátima zu einer symbolischen Festung ihrer Einstellungen machen; die kirchliche Führung hat diese Verbindung in den letzten Jahrzehnten abgewiesen und verhindert, so dass sich Fátima zu einem Hindernis im Annäherungsprozess zwischen Christen und dem Dialog zwischen der christlichen Religion und anderen Religionen entwickelt.

Die Leitidee Fátimas „Russland zu konvertieren“, die bereits vor der Entstehung des Kommunismus formuliert wurde, ist einer der Punkte, der die Annäherung zwischen den römischen Katholiken und östlichen Christen erschwert hat. Selbst die Marienverehrung, für die Fátima eines der internationalen Zentren ist, wird von einigen als eines der größten Hindernisse für die christliche Wiedervereinigung angesehen. In gewissem Sinne ist Fátima schon immer ein Ort der Konfrontation, Annäherung oder des Konfliktes für unterschiedliche religiöse Auffassungen und Einstellungen gewesen. Dies machte sich direkt zu Anfang bei der Auseinandersetzung zwischen der Gläubigkeit des einfachen Volkes und der katholischen Glaubenslehre bemerkbar – d. h. zwischen den konkreten Glaubensaufassungen und -praktiken der Seher, Anbeter und Pilger, die Fátima gestalteten (und gestalten), und der offiziellen Haltung der Kirche, die von Anfang an versucht hat, den Volkskult einzugliedern, zu regulieren, zu purifizieren und seine Richtung zu bestimmen. In Fátima sowie in einer Reihe von anderen Erscheinungsfällen und Marienverehrungen auf der Welt haben Anthropologen sich damit beschäftigt, wie verschiedene Auffassungen und Strategien sich widersetzen, annähern und aufeinander einspielen in einem Prozess der Verhandlung und gegenseitigen Beeinflussung.

Daher kann nicht einfach behauptet werden, dass Fátima „sich der Kirche aufgedrängt hat“ – was die Version der katholischen Leitung war und weiterhin ist – oder dass die Kirche Fátima erfunden hat. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen den beiden Behauptungen. Denn der Volksglaube entsteht weder aus dem Nichts, noch ist er „heidnisch“: Oft spiegeln so genannte volkstümliche Glaubenskundgebungen Themen, Thesen und Polemiken wider, die direkt aus den inneren Kreisen der offiziellen Kirche stammen.

Dieser komplexe Ursprung zeigt sich vor allem in der Konfrontation der „populären“ Marienverehrung Fátimas mit der Lehre der Allmächtigkeit oder Göttlichkeit Christus, die im Evangelium offenbart und von der Kirche gepredigt wird. Theologen und katholische Verantwortliche versichern, dass es sich nicht um zwei konkurrierende Themen oder zwei unvereinbare Dimensionen handelt, weder in Fátima noch in der katholischen Kirche. Es ist eine Tatsache, dass alle Päpste des 20. Jahrhunderts „Marienverehrer” waren, und dass die heutige Marienverehrung hauptsächlich auf ihren Einsatz zurückzuführen ist. Es waren Pius XI., Pius XII., Paul VI. und Johannes Paul II., die sich Fátima und anderer Marienanbetungsstätten annahmen und sie förderten. Man kann die überwiegend von Frauen praktizierte, volkstümliche Marienverehrung mit diversen psychologischen oder soziologischen Theorien begründen; sie mag vielleicht sogar mit dem Aufstieg der Frau in der Gesellschaft sowie der Anerkennung ihrer Rolle in der Kirche zu tun haben. Nicht behaupten kann man jedoch, dass sie, was die kirchliche Lehre anbetrifft, am Rande der Kirche entstanden sei. Johannes Paul II. soll kurz davor gestanden haben, ein neues Mariendogma zu erlassen, das Maria die Rolle des „Mit-Erlösers“ erteilt und sie somit etwas näher an die Ebene des Retters und der Göttlichkeit gebracht hätte. Allein die Befürchtung, dadurch die Trennung zu den Protestanten zu vergrößern, hatte ihn wohl daran gehindert.

Nun scheint man im Heiligtum Fátimas ein gerechtes Gleichgewicht zu suchen zwischen den bisher dominierenden Marienreferenzen und dem, was das zentrale Thema der Christenheit ist bzw. sein sollte: Jesus Christus. Der Versuch, die richtigen Proportionen der symbolischen Darstellungen im Heiligtum wiederherzustellen, wird durch die zentrale Position des stark abgesetzten, großen Kruzifixes am Altar der neuen Kirche und durch die Auffälligkeit des imponierenden Großen Kreuzes in der Nähe des Haupteingang suggeriert.

Das im Freien stehende Kreuz mit seiner luftigen Leichtigkeit von fünfzig Tonnen rostrotfarbenen Stahls dient nicht nur als christliches Wahrzeichen für eine Kirche mit fast agnostischer Ausrichtung und für das gesamte Heiligtum, sondern es blickt auch auf das angefangene Jahrhundert und auf all die, die noch folgen werden. Das Große Kreuz, ein bemerkenswertesWerk des Bildhauers Robert Schad, verkörpert sehr wohl das Symbol des Treffens mit der Zukunft, das Fátima sucht.